Montag, 23. Juli 2018

Zu Besuch in einer russischen Geisterstadt

Eine wundervolle Nacht verbrachten wir beide in unseren jeweiligen Betten im Gjestehuset. Der Helligkeit im Zimmer konnten wir zum Glück mit unseren Schlafmasken entgegenwirken, der Hellhörigkeit mit den Gehörstöpseln. Der Wecker klingelte uns pünktlich um 07:00 Uhr aus dem Bett und draussen war es genau gleich hell wie schon um 01:50 Uhr und 03:20 Uhr als ich kurz aufwachte. Nur ein kleines Detail war anders, was mir jedoch erst auf den zweiten Blick auffiel. 



Wir stürzten uns gleich um 07:30 Uhr auf das Frühstücksbuffet, welches für ein Motel wirklich sehr gut bestückt war und uns allerlei zur Stärkung bot. Nach dem Frühstück verschwanden wir gleich wieder im Zimmer um uns dort in unsere wärmsten Kleider zu hüllen, ehe wir uns um 08:20 Uhr vor dem Motel einfanden. Wir standen noch keine zwei Minuten vor der Tür als wir schon Besuch erhielten. Jakub, unser Guide für den restlichen Tag, begrüsste uns und wir bestiegen als Erste den Reisecar. Dieser füllte sich bei jedem Hotel wieder ein bisschen mehr und fuhr uns schlussendlich zum Hafen von Longyearbyen. Hier verliessen wir den warmen Bus wieder und sollten auf ein Schiff umsteigen. Doch haaaaalt! Was entdeckten wir denn da? Ein kleines rotes Schiff mit Schweizerfahne? San Gottardo? Den 20Minuten-Lesern dürfte dieses Schiff bekannt vorkommen, besitzt es und seine Crew doch seit ein paar Tagen einen Live-Ticker über ihre Forschungsarbeit hier auf Spitzbergen. Leider mussten wir wirklich an Board unseres, ebenfalls roten, Schiffes und konnten so keinen Schwatz mit den Schweizern führen.



Jakub begrüsste uns auf dem Schiff nochmals, erzählte uns von sich, von der heutigen Reise und natürlich von den Sicherheitsvorschriften an Board. Nach dieser Einführung begaben wir beide uns dann auch gleich auf Entdeckungstour durch unser Schiff, welches uns heute viele Stunden beherbergen sollte. Wir schlichen durch die Korridore, besichtigten sämtliche Decks und statteten auch dem Kapitän auf der Brücke einen kleinen Besuch ab. Nach dieser Besichtigung wussten wir dann auch, dass das vordere Deck unser Platz für das Bestaunen der Landschaft werden würde. So liessen wir uns auch gleich dort nieder und genossen die wundervolle Landschaft. Die Landschaft in Spitzbergen lässt sich nur schwer beschreiben. In der Umgebung der Stadt entdeckten wir vor allem Felslandschaften. Die Felsen sind jedoch mit kleineren Felsstücken übersät, zwischen denen grünes Moos und ganz selten auch ein wenig Gras schimmert. Eine spezielle und unwirkliche Szenerie. Wendet man sich dann gegen Westen, so erblickt man auf der anderen Seite des Fjords, das was man sich unter Arktis vorstellt. Schnee und ewiges Eis. Nicht bloss einen oder zwei Meter – nein über 40 Meter türmt sich das Eis hier auf und lässt nur die grauen Bergspitzen hervorblitzen. Doch wir hielten sicheren Abstand von diesen Eismassen und wendeten uns nordwärts. 





Nach über einer Stunde passierten wir ein Haus, in welchem viele Menschen im 1930 den Tod fanden. Erst 2012 fand man abschliessend heraus, dass sie einer Lebensmittelvergiftung zum Opfer fielen. Das Haus ist für jedermann offen, kriegt jedoch komischerweise nur selten Besuch. Nochmals eine Stunde später liefen wir in die Skansbukta ein. Die Bucht unterscheidet sich in einer Kleinigkeit von den restlichen Buchten hier in der Gegend. Die unterste Schicht der Felsen um sie herum, bestehen aus Gips. Diesen Gips wollte man hier abbauen und eröffnete darum 1924 die Gipsmine. Leider fand man heraus, dass im Inneren des Berges das für Gips so wichtige Wasser fehlte und der brauchbare Gips sich auf eine kleine Schicht am Äusseren beschränkt. Somit wurde die Mine gleich wieder geschlossen. Jakub wusste wirklich über alles Bescheid und konnte zu Allem eine Geschichte erzählen. 





Drei Stunden dauerte unsere Schifffahrt, ehe wir im nächsten Hafen einliefen. Obwohl Hafen übertrieben scheint. Nur ein paar Holzdielen erinnern hier noch an die goldenen Zeiten. Wir waren in Pyramiden angekommen. Pyramiden ist eine russische Stadt, welche seit 1998 völlig verlassen ist. Eine Geisterstadt. Eine russische Geisterstadt auf dem 78sten Breitengrad. Spezieller geht es wohl kaum. Jakub installierte unsere Treppe zum Festland und verliess uns dann aber. Er übergab uns an eine Führerin – ebenfalls Russin. Sie denken jetzt wohl entweder an die Kugelstosserin oder das Topmodel, aber die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte. Sie ist jedenfalls eine von 10 bis 20 Menschen, die sich längere Zeit hier in Pyramiden aufhalten. Es sind dies alles Russen oder Bürger ehemaliger USSR-Staaten. Für andere Bürger ist der längere Aufenthalt hier nämlich verboten. Wir wurden begrüsst und bestiegen auch gleich einen kleinen Reisebus, welcher von einem Russen gesteuert wurde, die Pistole in Griffweite. Auch hier schienen also Eisbären eine Gefahr darzustellen. Nur kurz dauerte die Fahrt, ehe uns der Bus am Stadteingang aussetzte. 



Von hier aus konnten wir gut die Kohlemine am Berghang erblicken. Unüblicherweise befand sich hier der Eingang oben am Berg und man grub sich in die Tiefe. Bei Kohlenminen geschieht dies normalerweise andersrum. Die nette Dame erzählte uns alles über die Entstehung der Minenstadt. Wie die Russen nach Pyramiden und Barentsburg (südlich Longyearbyen) kamen und nach Kohle gruben. Wie die Russen ihre Staatsmänner 1943 mitten im Aufbau der Minen, angesichts der zweiten Weltkriegs evakuierte und wie man die Minen ab 1954 wieder in Betrieb nahm. Der Aufwand war hoch. Hier in Pyramiden sogar noch höher als im südlicheren Barentsburg. Und als es1998 mit der USSR und den russischen Finanzen langsam bergab ging, sah sich Russland gezwungen eine der beiden Minenstädte aufzugeben. So mussten die Einwohner die Stadt innert Monaten verlassen und so steht sie heute nun hier. Ein giganischer Lost-Place. 



Wir wurden auf eine zweistündige Führung durch die Stadt mitgenommen. Entführt in eine andere Zeit und in eine andere Welt. Architektur, Einrichtung und einfach alles war ungewohnt. Russisch eben. Wir starteten am Flughafen, besichtigten ein Bauerngut, lernten viel über die Versorgung der Stadt, ehe wir am Kulturzentrum ankamen. Ein riesiges Gebäude, vor welchem die nördlichste Lenin-Statue der Welt seinen Platz gefunden hat. In diesem Kulturgebäude musste einst viel los gewesen sein. Um sich die Zeit zu vertreiben waren die Einwohner hier nämlich sehr aktiv in Kultur und Sport. Wir durften in das Gebäude eintreten und besichtigten einen Konzertsaal für 300 Personen, welcher auch oft als Kino genutzt wurde. Im gleichen Gebäude befand sich dann auch die Turnhalle, wo auf hölzernem Boden vor allem Fussball und Basketball gespielt wurde sowie ein Kraftraum. Auch hier machte sich die russische Architektur an jeder Ecke bemerkbar. Uns wurde hier nicht viel Zeit gelassen und wir spazierten schon bald durch die Fussgängerzone in die Gegenrichtung. Der nächste Besuch galt der Kantine. Auch hier durften wir das Innere inspizieren und wir waren wiederum sehr überrascht ob der Einrichtung dieses Gebäudes. Lost-Place-Fans kamen in der komplett eingerichteten Küche vollends zum Zuge und wir schossen Fotos und Videos. Weiter ging es dann durch das Dorf bis zum Hotel. Plötzlich kreuzte ein Tier unseren Weg. Ein wilder Polarfuchs schien auch auf dem Weg ins Hotel zu sein, schien etwas essbares zu wittern. Als er uns entdeckte, entschied er sich jedoch anders und setzte seinen Weg in die andere Richtung fort. Unser zweites wildes Tier heute, nach dem Rentier vor dem Motelfenster.














Das Hotel Pyramiden erwartete uns in mittlerweile gewohnt russischem Ambiente. Das Hotel ist das einzige komplett erhaltene Gebäude, was daran liegt, dass hier die wenigen Leute Unterschlupf finden. Hier kann man auch für ein paar Nächte absteigen und später mit einem anderen Schiff zurückfahren. Die Auswahl an Wodka in der Hausbar überzeugte uns jedoch nicht und wir ruhten uns nur ein wenig aus, ehe unser Bus zurück zum Boot fuhr. Wow! Was für eine Tour. Zwei Stunden durch eine russische Geisterstadt am Ende der Welt. Ein wohl wirklich einmaliges Erlebnis.

An Board war nun endlich Essenszeit. Es war schon 14:00 Uhr und der Magen knurrte. Im Preis inbegriffen war ein Mittagessen und auf dieses waren wir nun gespannt. Da wir gestern noch keine Chance zum Einkaufen hatten, gab es für uns keinen Plan B. Diesen brauchte es aber auch überhaupt nicht. Salat, Reis und Gulasch und dies sehr lecker. Wir erhielten eine grosse Portion und durften sogar nochmals nachfassen. Wirklich sehr fair. Doch diese Stärkung brauchten wir auch wirklich. Denn nun ging es nicht etwa zurück nach Longyearbyen. Nein nein. Ein weiteres Highlight erwartete uns nochmals ein kleines bisschen nördlicher.

Erst waren es nur ein paar Eisschollen. Eis, welches im Meer trieb und ab und an, immer mehr, gegen unseren Bug knallte. Auf einer Eisscholle hatte es sich sogar ein Seehund gemütlich gemacht und liess sich fotografieren. Ein zweiter tat es ihm kurz später gleich. Doch natürlich kommen die Schollen nicht von ungefähr. Vor uns bäumte sich immer mehr eine weiss-blaue Wand auf. Auch hier wieder über 40 Meter hoch. Der Nordenskiöldbreen, welcher sich vor uns türmte, ist der grösste Gletscher des Isfjords. Wir liessen uns ganz nahe an ihn herantreiben und hörten das Knarren in seinem Inneren. Wie Holz, welches bricht. Laut und unbändig. Plötzlich lösten sich am vorderen Teil des Gletschers grosse Eisblöcke und fielen krachend ins Meer. Der Gletscher ist auf dem Rückzug. Dieses Schauspiel wollten sich aber auch andere Lebewesen nicht entgehen lassen. Immer wieder tauchten die weissen Rücken der Belugas auf – Weisswale. Eine ganze Gruppe davon konnten wir mit Feldstechern und teilweise von blossem Auge erkennen. Auch eine Mutter mit ihrem, noch grauen, Jungen präsentierte sich uns. Der Kamerazoom reichte ohne Teleobjektiv jedoch nur für ein paar weisse Hügel. Und doch hatten wir auch noch Weisswale entdeckt. 






Der Halt beim Gletscher war eine gute halbe Stunde und erfüllte einem mit Ehrfurcht. Wie klein man sich vorkommt, wenn man einfach nur eine halbe Stunde vor einer solchen Eismasse, vor einer solchen kraftvollen Natur steht. Wir bahnten uns den Weg durch die eisige See zurück nach Süden. Die Heimfahrt sollte beinahe vier Stunden dauern und wurde nur durch einen kurzen Halt an einem Vogelfelsen unterbrochen. Ansonsten war der Rückweg derselbe und so verbrachten nun die meisten Passagiere ihre Zeit im Innern des Schiffes. Auch wir setzten uns, begannen Fotos auszusortieren. Doch die letzte Stunde zog es uns wieder an Deck und wir konnten die Anfahrt auf die Stadt Longyearbyen geniessen. Die San Gottardo stand auch noch immer im Hafen und der Bus wartete ebenfalls wieder, um uns zurück zum Gjestehuset zu fahren. Wir verabschiedeten uns bei Jakub und bedankten uns für eine 11-Stündige traumhafte Tour. Wer einmal in Spitzbergen ist MUSS diese Tour besuchen (und nicht die mit dem Speed-Boat, welche es in der Hälfte der Zeit für weniger Geld schafft). Ein Tag Erlebnis pur. Eine Expedition an vergessene Orte, zu wunderschönster Natur und zu wilden Tieren in ihrer natürlichen Umgebung. Die Tour kann man gar nicht genug loben und würdig beschreiben.

Ausklingen liessen wir den Tag erneut im Coal Miners Diner gegenüber. Wir trafen zum dritten Mal auf eine sehr nette Dame aus New York, mit welcher wir uns gestern im Transferbus und heute auf dem Boot schon unterhielten. Wir setzten uns zu ihr und lernten wieder einen interessanten Menschen kennen – etwas was reisen eben auch ausmacht. Ich beendete den Tag wie er für mich begann – mit Rentier. Zum Ende jedoch nicht vor dem Fenster sondern als Burger auf dem Teller. Auch das eine leckere Sache.

3 Kommentare:

  1. (Sorry) HUERE GEIL 😄😄😄👍
    Scho viel vo det ghört und gläse... und jetzt sind ihr echt det 😲👍
    De hammer 😄

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    1. Jo das goht eus genauso. So viel ghört und jetzt simmer plötzlich do. Zudem no relativ unplanmässig und spontan. Hettemer eus au nie erträume loh. Aber ich rote jedem mol do ane ds goh. Es isch nid ganz günstig - aber denn lieber chlige spare und denn ab do ane. So oft wirsch nid so en spezielle und authentische Ort finde. Und wie überall frögt mer sich au do: wie lang bliibt das no so?

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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