Heute klingelte der Wecker wieder
wie immer, nur konnten wir uns heute auch schnell aufraffen. Nachdem
Melanie das Fenster öffnete und wir den blauen Himmel entdeckten,
war es ein Leichtes und nach dem Frühstück ging es auch gleich los.
Und zu unserem ersten Halt mussten wir auch gar nicht lange reisen.
Das Womo liessen wir sogar geparkt, denn das Gebäude unseres
Interesses, stand gleich auf der anderen Strassenseite. Gestern Abend
rätselte wir noch, worum es sich bei dem Bauwerk handelt und konnten
dies dank Dr. Google auch herausfinden. Der Betonklotz wurde für die
olympischen Sommerspiele 1980 gebaut, welche in der Sowjetunion
stattfanden. Diese Arena hier stellte den Hauptbau der Spiele im
westlichen Teil der Union dar und zerfällt seither. Wie praktisch
alle olympischen Bauten. Für uns noch immer eine Idiotie, solche
riesigen Bauten zu erstellen um sie verlottern zu lassen (sahen wir
bereits in Barcelona) oder gleich nach den Spielen wieder abzureissen
(so gesehen in London). Die Arena hier in Tallinn wird trotz ihrer
tollen Lage nur noch von Graffitikünstlern und Touristen besucht,
welche den Ausblick über die alte und die neue Skyline von Tallinn
geniessen möchten. Wir erkundeten das Gebäude, genossen ebenfalls
die tolle Aussicht und machten uns wieder auf den Rückweg zum Womo.
Mit diesem wollten wir nun in den
Süden fahren. Ein erster Halt legten wir an der Tankstelle ein um
neues Frischwasser zu tanken und ein zweiter sollte an einem
Supermarkt folgen. Doch die Fahrt durch die Stadt war gar nicht so
einfach. Die Fahrweise der Einheimischen entspricht viel mehr der
russischen Fahrweise als bei den Russen selbst. Hier wird gerast,
überholt und gedrängelt. Alles klappt – aber es bleiben oft nur
wenige Zentimeter Platz. Bis wir an einer roten Ampel standen.
Quietschende Reifen, ein dumpfer Knall, Scherben und verbogenes
Blech. Ein Kleintransporter fühlte sich so frei einem ziemlich
noblen Audi eine neue Form zu verpassen. Alle nahmen es locker,
stiegen aus, schossen Fotos. Bei Grün zogen wir weiter und waren
froh, bald am Supermarkt angekommen zu sein. Die Preise hier in
Estland liegen einiges unter den Preisen in Skandinavien und Finnland
und ich freute mich so günstiges Bier zu entdecken und leistete mir
gleich drei Halbliterdosen. An der Kasse nahm sie mir der Kassierer
aber wieder ab und stellte sie weg. Hallo? Ich bin doch schon lange
18! Der Kassierer erwiderte, dass es in Estland verboten sei vor 10
Uhr morgens Alkohol zu kaufen oder verkaufen. Wie bitte? Ich will das
ja nicht jetzt trinken. Auch Melanies Apple Cidre blieb am Kassierer
hängen und so verliessen wir eben nur mit Wasser und Gemüse den
Laden.
Das nächste Ziel wurde im Navi
einprogrammiert und mit grossem Schrecken musste ich feststellen,
dass der Weg wirklich ein Mal durch die Stadt führte. Ich weiss
nicht wie, aber irgendwie schaffte ich es durch die Strassen auf die
Autobahn am Stadtrand zu kommen ohne dass unser Womo irgend einen
Schaden davontrug. Autofahren in Zürich wird in Zukunft wohl
Entspannung pur sein. Auf der Autobahn lief jedoch alles gesittet ab.
Einigermassen. Denn hier fährt alles auf der Autobahn – vom LKW
über Autos, Traktoren bis zu Fahrrädern. Und ab und an gibt es
sogar Fussgängerstreifen oder Fahrradwege, welche die Autobahn
kreuzen. Wir rollten einfach bis zu unserem Ziel, dem Hexenbrunnen
von Tuhala. Dabei handelte es sich um einen ganz normalen Brunnen.
Aus einem 4 Meter tiefen Loch schöpften die Menschen vor hunderten
von Jahren hier schon Wasser aus einem unterirdischen Fluss. Das
Problem: immer wenn der Pegel des Flusses sehr hoch ist, überläuft
der Brunnen und setzt die ganze Umgebung unter Wasser. Über 100
Liter pro Sekunde schiessen aus dem Loch, überschwemmen alles und
sorgen natürlich für die Sensation schlechthin. Bei dem trockenen
Sommer 2018 war der Brunnen heute natürlich ruhig und fast nichts
deutete auf die verborgene Kraft hin. Nach drei Ausbrüchen im 2011
setzte der Brunnen jedoch nur je einmal im 2012, 2013 und 2016 das
Umland unter Wasser.
Nach einem kleinen Spaziergang in
der Umgebung setzten wir uns wieder ins Womo und programmierten ein
Ziel ins Navi, welches vor allem ich mir aussuchte. Eine knappe
Stunde später erreichten wir in Järva-Jaari auch den angepeilten
Friedhof. Feld der alten Technik nennt sich dieser übersetzt. Wir
bezahlten am Eingang zwei Euro, indem wir die Münze in ein altes
Polizeiauto einwarfen. Auf dem Feld der alten Technik fanden viele
viele Fahrzeuge ihre letzte Ruhestätte und zerfallen in ihre
Einzelteile. Und wir kamen um ihnen dabei zuzusehen. Gleich zu Beginn
entdeckten wir die vielen Autos und obwohl ich mich mit Autos
auskenne, erkannte ich kein einziges Model. Natürlich handelt es
sich bei sämtlichen Fahrzeugen um Fabrikate aus dem Osten, der alten
Sowjetunion. Dasselbe galt auch für die Reisebusse, welche als
nächstes folgten und in welche man sich sogar noch setzen konnte.
Auch ein Tram stand auf der Wiese und wir nahmen im Führerstand
platz. „Nääächster Halt Helvetiaplatz!“. Nach einer riesigen
Sammlung an gepanzerten und teils beraupten Militärfahrzeugen
erreichten wir dann den für mich interessantesten Teil.
Feuerwehrfahrzeuge. Ganz ganz viele Feuerwehrfahrzeuge. Von der
Autodrehleiter über Tanklöschfahrzeuge bis zu riesigen Fahrzeugen
der Flughafenfeuerwehr war alles hier. Hier mischten sich zum ersten
Mal einige Volvo-Aufbauten unter die roten Rostlauben. Natürlich
schoss ich unzählige Fotos ehe wir uns wieder zum Womo begaben und
dort auch gleich unser Mittagessen zubereiteten.
Gestärkt ging es wieder in
nördliche Richtung. Der nächste Punkt wurde von Melanie ausgesucht
und überraschenderweise handelte es sich dabei um eine Burg. Die
Burg Rakverde erwartete uns nach kurzer Fahrt mit einem grossen
Parkplatz und den üblichen Ruinen. Gar nichts liess von Aussen
darauf schliessen, dass hier irgendwas anderes zu entdecken sein
sollte als in jeder 0815-Burg in der Schweiz. Und dafür wollten die
dann auch noch 9 Euro Eintritt pro Person. Natürlich dachten wir da
zwei Mal darüber nach, doch die Bewertungen und unser Gefühl
liessen uns den Preis bezahlen und eintreten. Sofort bemerkten wir,
dass das hier keine normale Burg war. Überall stand
mittelalterliches Zeugs herum und die Mitarbeiter waren alle in alte
Fetzen gehüllt. 36 Punkte waren auf unserem Plan, welchen wir
erhielten, eingezeichnet und wir arbeiteten uns von Punkt zu Punkt.
Bei Punkt 5 betraten wir den „Barber-Shop“ also den Rasur-Laden.
Dort sass eine mittelalterliche Dame am Empfang und nahm uns gleich
in Beschlag. Sie erklärte uns den Job des Barbiers, der auch
kleinere medizinische Eingriffe ausführte. Weiter führte sie uns in
die Welt der Prostitution und der mittelalterlichen
Geschlechtskrankheiten ein. Sie erklärte uns den Grund des
Keuschheitsgürtels (Schutz vor Vergewaltigung, welche im Mittelalter
oft vorkam) und dass Syphilis im Mittelalter etwas war, dass einem
das Ansehen der Mitmenschen beschaffte. Nur Reiche konnten sich den
Geschlechtsverkehr mit Prostituierten leisten und sich dort mit der
Krankheit anstecken. Die Dame führte uns gut 10 Minuten durch die
Räume, erklärte alles in bestem Englisch und liess uns danach noch
für Fotos alleine. Wow. Wirklich sehr freundlich hier fast noch eine
Führung zu erhalten.
Wir erkundeten weiter die
Schmiede, die Schreinerei, das Restaurant, die Stallungen und den
Innenhof in welchem Gänse, Hühner, Schafe, Ziegen und ein Esel ihr
Zuhause fanden und um Streicheleinheiten und/oder Essen bettelten.
Als nächstes entdeckten wir viele dunkle Zwischengänge, kletterten
auf die Burgmauer, stiessen zur Kirche vor und betrachteten Ballsaal,
Speisesaal und Weinkeller. Als nächstes trafen wir auf einen Keller,
welcher uns an ein Chemielabor erinnerte. Hier war ein Alchemist
zuhause, welcher mit uns zusammen begann Schwarzpulver herzustellen.
Aus Kohle, Salpeter und Schwefel mixte er das schwarze Pulver und
erklärte uns viele interessante Dinge über die Verwendung,
Herstellung und Lagerung. Auch das war wieder sehr interessant. Doch
nun wollten wir uns an das Herzstück der Burg warten. Drei Räume,
welche in allen Bewertungen hervorstechen und für welche die Burg
auch bekannt ist. Die Folterkammer, die Kammer des Todes und die
Hölle. Eine mittelalterliche Dame holte uns wieder am Eingang ab und
führte uns in die Folterkammer. Nur mit wenigen Kerzen erleuchtet
herrschte eine düstere Stimmung, während uns die Instrumente
gezeigt wurden mit welchen die Menschen verhört, gefoltert und
schlussendlich hingerichtet wurden. Auch in der Kammer des Todes
herrschte gruslige Stimmung. Viele Puppen, ein aufgestellter Sarg
sowie Licht- und Toneffekte sorgten für das richtige Ambiente ehe
wir von der Dame, ohne ihre Begleitung, in die Hölle geschickt
wurden. Nach ein paar Treppenstufen erwartete uns wirklich ein Trip
durch die Hölle. Zahlreiche Licht- und Toneffekte, viele Puppen und
anderes grusliges Zeug, Hindernisse am Boden und überall. Wie eine
wirklich gut gemachte Geisterbahn. Wir fühlten uns wie an den
Horror-Nights im Europapark ehe wir nach ein paar Minuten wieder ans
Tageslicht traten. Wow! Was für ein Erlebnis. Das wollten wir bei
einem kühlen Getränk in der Schenke sacken lassen und bestellten
uns dort ein Bier und einen Cider – war ja jetzt nach 10 Uhr.
Pünktlich um 16:00 Uhr machten wir uns dann auf den Weg in den
Innenhof. Das selbst gemischte Schwarzpulver fand nun Verwendung,
indem die schwedische Kanone im Innenhof abgefeuert wurde. Mit einem
lauten Knall verpuffte das Pulver und natürlich sind wir wie alle
anderen auch ganz schön erschrocken.
Nun war alles gesehen und wir
machten uns auf den Weg zum Womo. Wir waren uns einig: das war jetzt
etwas richtig geiles! Ein Mittelaltermuseum zum Anfassen. Sehr
freundliches Personal, welches immer freudig strahlt, wenn es einem
etwas erklären darf. Man könnte hier auch noch auf Pferden reiten,
Bogenschiessen, mit Lanzen üben und vieles anderes. Also für die 9
Euro kann man locker einen halben Tag unterhalten werden. Eine
geniale Sache. Wir tratschten noch lange über die tolle Burg während
wir zu unserem Übernachtungsplatz fuhren. Dort gab es schon bald
Nachtessen und wir starteten in einen gemütlichen Abend.
jetzt ha ich mir scho hoffnig gmacht dass de Barbier dir an Busch gange isch 😂
AntwortenLöschenTja, demfall nöd 🤷♀️
Nene. Uf da muesch no chlige warte du :D
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